Samstag, 8. März 2014

Fenian

"Vollidiot - so ein Trottel - ", nur Bruchstücke dessen, was Fenian an den Kopf geworfen wurde, drang zu ihm hindurch. In seinen Gedanken war er bei den Ereignissen die ihn überhaupt in diese Situation gebracht hatten. 

Fast eine Woche war Fenian durch die Straßen Erzens gewandert, begleitet vom stetigen Knurren seines Magens. Sein Weg zu den Viadukten hatte sich zuerst als Fehlschlag herausgestellt, da die Soldaten vom Vormittag bereits ihren Posten verlassen hatten. Alles hatte ruhig dagelegen, nur die Luft hatte noch immer von der Hitze des Nachmittags gesirrt. Erst am nächsten Tag hatte Fenian den Mut aufgebracht zur Kaserne zu gehen und dort nach einer Anstellung zu fragen. Die Männer am Eingang waren nett gewesen. Freundlich hatten sie Fenian Auskunft gegeben, doch ihre irritierten und belustigten Blicke konnten sie nicht verbergen. Erst Tage später sollte es erneut eine Rekrutierung geben. Also hatte Fenian sich durch die Straßen Erzens geschlagen bis er auf Achroit gestoßen war. Er war kaum älter als Fenian überragte ihn jedoch um einige Zentimeter. Achroit war einige Tage zu früh in der Hauptstadt angekommen und hatte das gleiche Schicksal wie Fenian erlitten; er konnte – oder eher wollte – nicht nach Hause zurück kehren. Achroit war der dritt-geborene Sohn einer reichen Familie Erzens, für seine Ausbildung hatten ihn seine Eltern aufs Land geschickt um dort alles zu lernen was er für eine Karriere beim Militär brauchte und jetzt da er alt genug war, war er in seine Heimat zurückgekehrt. Also hatte Fenian die letzte Zeit mit diesem großen bulligen Mann  verbracht und war mit ihm zur Kaserne gegangen. Sie hatten sich in eine der Reihen gestellt die sich bereits gebildet hatten und dort stand der Rothaarige auch jetzt noch, während ihn einer der Militärs anschrie. 

Die Flüche, mit denen ihn der Offizier bedachte, ließen Fenian immer mehr zusammenzucken, den Kopf konnte er schon nicht weiter einziehen. "- und jetzt geh endlich dorthin, wo du hingehörst! Ab in die letzte Reihe!" 
Noch versuchte der Rothaarige aufrecht zum anderen Ende des Platzes zu gehen, doch unter den Blicken, der in Reih und Glied stehenden anderen, sackte er immer mehr in sich zusammen. Fenian musste vorbei an all den hochgewachsenen und wohlgenährten jungen Männern der wohlhabenden Familien und auch an denen, die aus den Armenvierteln stammten. Am Ende angelangt, stand er in einer Reihe mit denen, die, genauso wie er, zuvor von der Gesellschaft gemieden wurden. Männer die nichts mehr hatten, deren Glieder bereits zu faulen begannen, oder die so abgemagert waren, dass sie keiner produktiven Arbeit nachkommen konnten. Fenians Mut schwand als er neben einem Mann mit verhärmtem Gesicht stehen blieb. Nicht mehr in einer starken Einheit wie zuvor, sondern zwischen Invaliden, stand er. Nur noch schwach drang die Stimme des Offiziers zu ihm durch, doch er konnte erahnen um was es ging. Die Worte "Untersuchung" und "Ärzte" fielen kurz bevor sich die Masse in Bewegung setzte. 
Als einer der letzen betrat Fenian die Eingangshalle des Krankenhauses. Riesige Treppen wanden sich über drei Stockwerke in die Höhe, eine davon führte auslandend in den ersten Stock. Steriles weiß lies die Wände in einem unnatürlichen Licht leuchten. Fenian war geblendet  von dieser Platzverschwendung. Allein auf die Grundfläche der Halle hätten mindestens zehn Hütten der Außenbezirke gepasst.  
Vor einer zweiflügligen Tür, im ersten Stock, stand eine Gruppe Männer, deren Alter und Aussehen nicht unterschiedlicher hätte sein können, wenn man von den weißen Mänteln absah, in die sie sich gehüllt hatten. Misstrauisch musterten sie die Masse an Rekruten, die weit unter ihnen standen. Auf der Treppe unter ihnen reihten sich junge Frauen auf, alle in weiße Kleider gehüllt. Mit festem Schritt trat einer der Männer aus der Gruppe heraus, trotz seiner ergrauenden Haare waren die Züge seines Gesichts noch immer mit Stolz und Eitelkeit erfüllt. "Als neue Rekruten werdet ihr hier einigen Tests unterzogen, die prüfen sollen, ob ihr gesundheitlich dazu geeignet seid, unserem Land zu dienen. Wir bitten deshalb die Rekruten des inneren Stadtbereichs mit uns Ärzten nach oben zu kommen. Die Herren aus den Außenbezirken werden bitte erst einmal unseren Schwestern folgen, sie werden sich um sie kümmern. Lassen sie uns keine Zeit verlieren." Zügig setzten sich die Ärzte in Bewegung und verschwanden hinter den Flügeltüren, ihnen folgte der vordere Teil der Rekruten. 
Fenian blieb mit dem Rest der Masse zurück und hatte nun die Möglichkeit einen genaueren Blick auf die Krankenschwestern zu werfen. Noch nie hatten er Frauen wir diese gesehen. Ihre Wangen waren rosig und voll, ihre Augen leuchteten, doch auf ihren Lippen lag kein Lächeln. Mürrisch pressten sie ihre Lippen aufeinander. Scheinbar war eine bessere Verpflegung kein Garant für ein Leben ohne Probleme. 
Eine der älteren Frauen trat aus den Reihen hervor und musterte die Rekruten nicht freundlicher als der Arzt zuvor. "Ihr alle werdet mit uns Schwestern ins Badehaus kommen. Dort sollt ihr euch waschen und frische Kleider bekommen. Danach kehrt ihr wieder hierher zurück und werdet von den Ärzten untersucht." Fenian blickte in die Gesichter derer die mit ihm zurückgeblieben waren. Er zweifelte jetzt nicht mehr daran, dass einige von ihnen nur hier waren, weil sie die Annehmlichkeiten eines heißen Bades und neuer Kleider für sich beanspruchen wollten. Und doch wirkten sie alle so anders als er selbst. Große, bullige Männer wechselten sich mit kleinen dicklichen, oder schlaksigen ab. Eine bunte Mischung entschlossener Kämpfer, Verzweifelter, Hoffnungsloser und Schnorrer, die sich alle vom heutigen Tag ein besseres Leben erhofften. 
'Ich bin nicht besser als sie', dachte Fenian. 'Auch ich will komfortabler und länger leben als der Rest in den Sums. Nicht einmal die Unterstützung die ich meinen Eltern zugesichert habe kann meinen eigenen Egoismus verbergen. Ich will weg. Nicht Vater hatte mich herausgeworfen, diese Entscheidung hatte ich ganz allein getroffen.' Zügig folgte Fenian den anderen Rekruten durch mehrere Gänge und über einen Innenhof. Erst als er das dämpfige Bad betreten hatte, hörte er erneut die Stimme der Krankenschwester. "zu jedem von euch wird eine Schwester kommen und sich um eure Kleidung und etwaigen Wunden kümmern. Verteilen sie sich bitte, es gibt genügend Waschzuber, dass auch jeder hier bedient sein wird." Voller Eifer verteilten sich die Männer auf die großen steinernen Wannen, die leicht erhöht aus dem Boden ragten. Sie hatten noch immer nicht begriffen, dass die propagierte Gleichheit doch nicht galt. Erst wenn sie sich halbwegs an die obere Schicht anpassten würden die hochgeborenen Ärzte einen Blick auf sie werfen. Also herrschte auch hier weiterhin die zwei-Klassen-Politik. Mit einem mulmigen Gefühl streifte Fenian seine Kleider ab und tauchte in das dampfende Wasser ein.

Zwischen das sanfte Plätschern des Wassers mischte sich aufgeregtes Rascheln und Raunen. Neugierig blickte Fenian sich um, sein Blick bleib an einer Gruppe Schwestern hängen, die sich anscheinend nicht einig wurden. "du kannst dir nicht immer raussuchen, wen du versorgst.", die nasale Stimme einer der Schwestern wehrte zu Fenian herüber. "Genau, du hast schon letztes Mal den besten Fang gemacht." Eine kleine etwas beleibtere, junge Schwester verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.
"Vielleicht solltet ihr euch weniger zanken und lieber die Rekruten versorgen", ein leichtes kichern schwang in der hellen Stimme mit die einer dunkelhaarigen Schwester gehörte, die gerade an der Gruppe vorbeischlenderte. Sie machte auch nicht den Eindruck, als ob sie es eilig hätte wieder ihrer Arbeit nachzugehen. 
"Halt dich da raus, Eleina!“, keifte die Schwester mit hellem Haar, wie gesponnenes Gold, auf die die anderen zuvor losgegangen waren. 
„Oh, ich glaube sie hat durchaus Recht mit dem, was sie sagt, Fera. Egal um wen es sich bei euren Streitigkeiten diesmal handelt, Schwester Eleina wird sich nun um ihn kümmern. Der Rest verteilt sich jetzt endlich!“, die Stimme der Oberschwester dröhnte durch den gesamten Raum, so dass die Schwestern erschrocken zusammenzuckten und schnell ihrer Arbeit nachgingen.
Mit tänzelnden Schritten schwebte eine junge Frau auf Fenian zu, in ihren Händen hielt sie ein Körbchen gefüllt mit verschiedenen Seifen und Fläschchen voller Öl. „Ich bin Schwester Eleina, wie du sicher schon mitbekommen hast, und ich stehe dir zur Verfügung. Zuerst werde ich mich um deine Kleider kümmern.“ Lächelnd nahm sie den Haufen der am Boden lag und verschwand in einer der schwach beleuchteten Ecken. Verwirrt blickte Fenian ihr nach. Mit einem Seufzen ließ sich der Rothaarige tiefer in das dampfende Wasser gleiten. Angestrengt versuchte er nichts zu denken. Doch je mehr er sich konzentrierte, desto schneller schweiften seine Gedanken ab. Aufmerksam beobachtete er die anderen Schwestern, die immer wieder hin und her liefen um dann mit Handtüchern oder frischer Kleidung zurück zu den Zubern zu gehen. Mit einem  seltsamen Beigeschmack fragte er sich wer der andere Mann war, den  Schwester Eleina nun zusätzlich betreute.
Schamvoll blickte Fenian nur auf die von Schaum bedeckte Wasseroberfläche, als die dunkelhaarige Schwester wieder zurückkam. Noch nie war ihm eine Frau so nah gekommen, wenn er von seiner Mutter absah. Eleinas Berührungen auf seiner Haut ließen ihm einen sanften schauer über den Rücken jagen.
„Ein Handtuch und frische Kleidung für unseren neuen Krieger?“, erschrocken und verwirrt drehte er sich zu der jungen Frau um, die hinter ihm stand. Er hatte gar nicht gemerkt, dass Eleina gegangen war, so stark war der Nachhall ihrer Berührungen gewesen.  Lauthals lachend legte die Schwester das Stoffbündel auf den Schemel neben dem Zuber, bevor sie sich ganz nah zu dem Rothaarigen an den Rand des Bassins setzte. „Auch wenn ich noch nicht so oft bei den Auswahlverfahren dabei war, so einen Mann, wie dich, habe ich noch nie gesehen… Rotes Haar…. Ich habe noch nie solches gesehen… so rot… wie Feuer! Ich werde es nicht abschneiden.“, ein Lächeln legte sich auf die Lippen Eleinas, als sie einige Strähnen durch ihre Hände gleiten ließ. Erschrocken von ihren Fingern, die seinem Gesicht so nahe kamen, zuckte Fenian zusammen. „Hast du noch nie eine Frau so nahe an dich heran gelassen?“ Das Lächeln auf ihren Lippen ließ trotz des heißen Wassers einen kalter Schauer über seinen Rücken laufen. Ihre Augen blitzten gefährlich im Schein des Kerzenlichts. Vorsichtig griff Fenian nach dem Handtuch. Ihm war nicht wohl dabei, dass ihm Eleina so nahe war. Ihre dunklen Augen verschlangen jede Bewegung seiner Hände. Wie in der Schwärze einer Schlucht schien er in ihnen zu verschwinden, und mit ihm die Angst und Scheu, die er zuvor vor ihr verspürt hatte. Weshalb sollte er sich noch so sehr vor ihr zieren? Heute begann sein neues Leben.
„Was wäre, wenn ich ‚nein‘ sagen würde?“,  langsam fuhr Fenian mit seinen Fingern über den weichen Stoff des Handtuchs, fühlte, wie die langen, abstehenden Fäden unter seinem Druck nachgaben.
„Dann würde ich denken, dass alle Frauen da draußen keinen Geschmack hätten.“
„Ach ja?“
Anstatt zu antworten wickelte Eleina eine Strähne seines Haars um ihre Finger.  Mit einem Lächeln beobachtete er wie die Spitzen ihrer Finger so nah an seiner Haut entlangfuhren, dass kaum etwas fehlte um sie zu berühren. Jedoch konnte er dem Schauspiel nicht lange beiwohnen, denn die Schwester geriet bereits nach kurzem ins Stocken.
„Eleina, ich hoffe doch, du bist nicht zu abgelenkt von deinen Pflichten, um ihnen auch nachzukommen!“, donnerte die Stimme der Dienstältesten durch den gesamten Raum, so dass sich alle zu ihnen umdrehten.
„Nein, Schwester Isandre…“, erwiderte die jüngere reumütig.
„Dann geh jetzt und versorg die Kranken in der Halle!“ Mit einem tiefen Seufzen erhob sich Eleina und durchschritt den Raum.
Schwer lastete der abschätzige Blick der Schwester Isandre auf Fenian, während er sich beeilte es den anderen Anwärtern gleich zu tun und sich ankleidete.

Nachdenklich beobachtete Fenian die Kämpfe auf dem Exerzierplatz mit zusammengekniffenen Augen. Die Sonne brannte unbarmherzig, bereits in den frühen Vormittagsstunden. Es half nicht einmal etwas, dass Fenian seine Augen mit den Händen abschirmte um besser erkennen zu können, wie die Rekruten vor ihm ihre Übungen vollführten, denn die Schwerter und Schilde reflektierten das Sonnenlicht und blendeten die Zusehenden mehr als die bloße Sonne.
„Wahnsinnig… Ich muss wahnsinnig sein…“, murmelte der Rothaarige vor sich hin, während er mit jeder Sekunde die er wartete nervöser wurde. Auf was hatte er sich da nur eingelassen? Nach und nach wurden die Rekruten aufgerufen, um im Zweikampf gegeneinander anzutreten. Nicht um alles in der Welt wollte Fenian auch nur in die Nähe der Waffen kommen. Er spürte, wie tief in seinem Innern eine Unruhe nur darauf wartete von ihm Besitz zu ergreifen und ihn zu übermannen. Er kannte dieses Gefühl. Es war die Nervosität und das Wissen diese Chance erneut zu vertun, sobald er auch nur antrat. Genauso, wie bei all den Bewerbungen die er bei den Schmieden in seinem Bezirk getätigt hatte, überfiel ihn diese Unruhe auch jetzt, setzte sich fest in seiner Magengegend und breitete sich aus. Sie ließ seinen Mund trocken werden und in seiner Kehle den sauren Geschmack von Erbrochenem aufsteigen. Seine Finger zitterten, als er versuchte sie auszustrecken; schnell ließ er sie wieder zu einer Faust zusammenschnellen. Schmerzen zuckten durch seine Schultern, als er spürte, wie sich die Muskeln in ihnen verkrampften.
Fenian versuchte ruhig zu Atmen – ein und aus, ein und aus – doch selbst die vor sich hin gemurmelten Beruhigungsformeln, die ihm seine Mutter früher gesagt hatte, brauchten nichts. Mit jeder Minute die er weiter in einer Reihe mit den anderen Rekruten stehen musste steigerte sich seine Angst. Nur mit Mühe konnte er das Verlangen, sich zu Übergeben, unterdrücken.
Nach einer Ewigkeit des Wartens kam seine Erlösung. „Carya, Fenian!“, brüllte eine Stimme über den Platz. Jetzt war es so weit. Nun konnte er beweisen, was in ihm steckte. Seinem Vater, seiner Mutter, seinem Bezirk und noch mehr sich selbst. Mit bebendem Körper und bedächtigen Schritten ging der Rothaarige an den anderen Rekruten vorbei zu dem freien Übungsplatz. Es gab keinen Rückzug mehr.

Leise klirrte Glas, wie in weiter Ferne, begleitet von aufgeregtem Gemurmel. Fenian versuchte sich auf die Worte zu konzentrieren, die durch die umgreifende Dunkelheit drangen.
„Hey… du wach…?“ aus dumpfen Lauten formten sich langsam Worte, als der Junge flattern seine Augen öffnete. Schummriges Kerzenlicht warf dunkle Schatten an die Wände der kleinen Kammer in der er lag. Er blickte verwundert zu der Schwester, die geschäftig kleine Phiolen auf einem Schränkchen sortierte. Ihr Haarknoten hatte sich gelockert; sanft fielen ihr einige Strähnen in ihr Gesicht. „Bist du jetzt endlich wach?“, ein leichtes Lachen mischte sich in ihre warme Stimme, wie scharfe Splitter. Fenian erkannte die Dunkelhaarige wieder, als seine Augen die Unschärfe des Schlafs verlor. Sie war Eleina, die ihn zuvor schon betreut hatte. „Was ist passiert?“, noch immer war Fenians Stimme belegt, als er sich vorsichtig aufsetzte. „Ich weiß nur noch, dass ich den Kampfplatz betreten habe…. Die Schwerter klirrten aneinander, als ich mich verteidigte… danach….“, vorsichtig blickte Fenian auf seinen Arm, dessen pulsierender Schmerz ihm erst jetzt deutlich bewusst wurde.
„Was dir genau draußen los war kann ich dir nicht sagen, aber sie haben dich bereits betäubt hierher gebracht. Deine Schnittwunde wurde versorgt, genäht und bandagiert.-“ Fenian versuchte sich erneut zu erinnern, was genau geschehen war, doch vor seinen Augen verschwammen verschiedene Bilder, gleißendes Licht auf dem Hof, verdunkelt von Gesichtern, die auftauchten und wieder verschwanden. Münder, die sich bewegten, aber keine Worte formten. Deformierte Laute drängten sich aneinander, bis sie murmelnd gurrend ineinander liefen.
„Was ist mit meinem Auswahltest?“, unterbrach der Rothaarige Eleina barsch, auch wenn sich die Bedeutung seiner Worte nur schleppend formte.
„Den wirst du wohl wiederholen müssen. Mit dieser Verletzung kannst du nicht mehr teilnehmen.“, ehrliches bedauern schwang in ihrer Stimme mit, doch sie sah noch immer nicht von ihrer Arbeit auf.
„Nein!“, wütend versuchte Fenian von seinem Lager aufzustehen, doch er musste zu sehr darauf achten seinen Arm nicht zu belasten, um schnell zu sein. „Ich muss es zu Ende bringen! Ich kann nicht warten!“ Erschrocken wich die Schwester eine Armlänge von ihrem Patienten zurück. „Ich habe…. Ich habe es versprochen, dass ich es schaffen werde…“, Fenians Stimme wurde leiser. Nur mit Mühe konnte er die Tränen zurückhalten, die ihm aus Wut in die Augen schossen. Völlige Verzweiflung übermannte Fenian, als er realisierte, dass dies das aus für seinen Erfolg über seinen Vater sein könnte. Wenn er jetzt wieder zu Hause ankommen würde, dann konnte er sich sicher sein die Gunst Dyars nie wieder für sich gewinnen zu können.
Dieser eine Tag war alles, auf das er seine Chancen gesetzt hatte, sich zu beweisen. Ihm wurde nur zu schmerzlich bewusst, dass er dadurch nicht nur sich selbst und seinen Vater, aber vor allem seine Mutter enttäuscht hatte. Sie hatte einen Sohn verdient, der sie ernähren konnte, wenn sie Alt wurden. Jetzt hatte er seine Möglichkeiten vertan, durch seine eigene Ungeschicklichkeit.
„Hey Kleiner! Jetzt werf doch nicht gleich deinen Mut über Bord“, mit einem scherzhaften Ton versuchte Eleina den Jungen aufzumuntern. „Beweis ihnen doch einfach, wie ernst es dir ist. Auch wenn du jetzt vielleicht noch nicht so gut kämpfen kannst wie die anderen, du kannst dich noch verbessern. Nicht jeder, der ein großer Kämpfer ist, fängt auch gleich so an. Lass dich nicht von einem kleinen Kratzer entmutigen, während deiner Ausbildung werden noch mehr – und schlimmere – dazu kommen, das kann ich dir versprechen. Fast jeder Kadett kommt mehr als ein Mal während seiner Ausbildung zu uns.“ Ein ermutigendes Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie sich wieder von dem Rothaarigen abwante, um die Verbandsutensilien auf dem kleinen Tisch zusammen zu räumen. Für einen Moment konnte Fenian auf ihre Worte nichts erwidern. Sie hatte Recht. Doch wie konnte er beweisen, dass er Soldat werden wollte. Er tat es zwar nicht für sich selbst, aber er hatte den besten Ansporn den er sich vorstellen konnte: Seine Familie.
Ohne auf seinen verletzten Arm Rücksicht zu nehmen warf er sich seine Weste über, die am Fußende des Bettes lag und stieg in die bereitstehenden Stiefel.  Endlich hatte er eine Ahnung von dem, was er tun musste. Er würde aufhören jede Kleinigkeit allzu ernst zu nehmen und anzufangen seine Ziele zu erreichen. Der Schnitt in seinem Arm? Nebensache, wie Eleina gesagt hatte, er würde sich noch schlimmeres zuziehen, vor allem, falls es wirklich einmal zu einer Auseinandersetzung kommen würde.
„Was hast du vor?“, völlig entsetzt sah die Schwester dem Rothaarigen zu, wie er sich ankleidete.
„Ich befolge deinen Rat. Ich beweise ihnen, dass ich es ernst meine.“ Und mit diesen Worten war Fenian auch schon durch die Tür des Krankenzimmers verschwunden.
Blinzelnd sah sich Fenian auf dem hellen Flur um, in den er getreten war. Nur langsam konnte er sich vorstellen wo er nach seiner Verletzung gebracht worden war. Es musste das Gebäude sein, in dem auch die medizinischen Tests stattgefunden hatten. „Alles wird gut“, murmelte der Rothaarige vor sich hin, während er mit dem sichersten, ihm möglichen, Schritt den Weg zu den Exerzierplätzten zurücklegte. Trotz der Schmerzmittel die ihm gegeben wurden fühlte er noch immer ein leichtes ziehen im linken Oberarm.
Aufgeregtes Raunen ging durch einige der Reihen, als Fenian wieder zu den anderen trat und sich in seine Reihe einordnete.
„Was glaubst du machst du da?“, es hatte nicht lange gedauert, bis einer der Aufseher mit wutverzerrtem Gesicht vor ihn trat und ihn anblaffte. „Du wurdest bereits ausgesondert und zur Krankenstation gesendet!“
„Ich bin hier um meinen Aufnahmetest zu beenden, Sir.“, erwiderte Fenian, ohne sich seine Verunsicherung anmerken zu lassen.
„Die Test sind schon fast vollständig abgeschlossen und du hast bei Zweien nicht teilgenommen. Warum also solltest du überhaupt noch den Letzten absolvieren. Außerdem wirst du ihn so oder so nicht bestehen, jetzt wo dein Arm verletzt ist.“ Mit einem selbstgefälligen Lächeln drehte sich der Aufseher um und wollte gehen, doch so schnell wollte Fenian diesmal nicht aufgeben.
„Sir, ich will es trotzdem versuchen. Ich will am letzten Test teilnehmen, um zu beweisen, dass mein Wille Soldat zu werden stark genug ist.“
„Dein Wille kann so stark sein, wie er will, wenn du keine Leistung bringst wirst du niemals Soldat.“
Fenian war sich sicher, dass mittlerweile einige der anderen Rekruten zu ihnen hinübersehen mussten, doch er wandte seinen Blick nicht von dem Aufseher vor ihm ab. „Sir, ich bin bereit alles zu geben, was ich kann, wenn ich an dem nächsten Test teilnehmen kann.“
Mit Beunruhigung nahm Fenian die dunkelrote Färbung Gesichts seines Gegenübers wahr. Ihm blieb nichts anderes übrig als zu hoffen, dass seine Hartnäckigkeit ihm nicht noch mehr Ärger einbrachte. Eine tiefe undurchdringliche Stille breitete sich in ihrem Umfeld aus, während er darauf wartete, dass er erneut angebrüllt werden würde,  etwas, das wohl zur Gewohnheit werden würde.
„Teru, wart mal.“, verwirrt vernahm Fenian hinter ihm eine schnarrende Stimme. „Lass es ihn doch versuchen, wenn er so versessen drauf ist. Dann können wir sehen, ob der Bursche zäh genug ist, oder zusammenbricht wie ein kleines Baby.  Die letzte Prüfung wird mit Sicherheit kein Zuckerschlecken.“, Hohn troff aus der Stimme hinter ihm. Der Aufseher vor dem Rothaarigen verzog verächtlich das Gesicht, bevor alle Emotion von ihm verschwanden. „Na schön. Auf deine Verantwortung Chare, falls jemand wissen will, wer ihn weiter gelassen hat.“
Erleichtert stieß Fenian seinen angehaltenen Atem aus, als sich der Aufseher entfernte und mit ihm die Blicke der anderen Rekruten. Er hatte es geschafft. Er durfte weiterhin an den Prüfungen teilnehmen.
Über seinem Triumph vergaß Fenian vollkommen, dass seine Schulter verletzt war. Seit langem war er einmal zufrieden mit dem was er geschafft hatte, auch wenn es nur ein kleiner Sieg auf dem Weg zum Erfolg war. Erst als er den nächsten Übungsplatz erreicht hatte wurde ihm schmerzlich bewusst, wie klein dieser war.
Die Rekruten standen in einer langen Schlange an, um von einem der Waffenmeister eine Holzapparatur unsanft in die Hände gedrückt zu bekommen. Misstrauisch beäugte Fenian das unförmige Gebilde. Noch nie hatte er so etwas gesehen. Die Soldaten auf Patrouille trugen meist nur ihre kurzen Einhänder, oder eine Lanze, und einen handlichen runden Schild. Jetzt jedoch hielt Fenian eine T-förmige Waffe in Händen, zwischen die gebogenen, kurzen Holzteile war, ähnlich der Säge seines Vaters, ein dünner, metallener Faden gespannt. Durch eine komplizierte metallene Apparatur wurde dieser im hinteren Bereich des längeren Holzstücks auf Spannung gehalten. Vorsichtig drehte Fenian diese sogenannte Armbrust in seinen Händen hin und her, betrachtete alles ganz genau, bis er sich sicher war, dass es sich um etwas Ähnliches, wie eine Schleuder handeln musste. Aufmerksam beobachtete er, wie die Rekruten vor ihm das Holzkreuz vor ihren Gesichtern balancierten und eine Ewigkeit warteten, bis sie den Abzug betätigten. Mit lautem Zischen rauschten die zuvor eingespannten Pfeile durch die Luft. Nicht alle trafen die Zielscheiben beim ersten Versuch, doch immer öfter ertönte das dumpfe Geräusch des Einschlags.
Zehn Rekruten wurden gleichzeitig geprüft und immer schneller rückte Fenian weiter nach vorne, bis er wie seine Vorgänger in einem Abstand von fünfzehn Metern vor großen bunt bemalten Strohzielen stehen blieb. „Rekruten, vor euch befinden sich Köcher mit fünf Bolzen, die Armbrüste wurden euch bereits zuvor ausgehändigt, damit ihr ein Gefühl für sie bekommt. Legt jetzt eure ersten Bolzen ein und befolgt genau meine Anweisungen.“ Fenian sah einen etwas kurz geratenen Mann mit langen Schritten die Rekruten abschreiten, während der andere neben ihm gelangweilt weiter sprach. „Versucht erst gar nicht euch zu sehr zu bemühen. Ihr werdet Wochen, wenn nicht sogar Monate brauchen, um zu lernen, wie ihr richtig Zielen könnt. Heute geht es nur darum um zu sehen, wie ihr euch im Großen und Ganzen anstellt. Wenn ihr euren Bolzen eingelegt habt versucht ihr mit der Spitze direkt auf die Mitte der Zielscheibe zu zielen. Nichts anderes. Wenn die Spitze in die Mitte zeigt, dann drückt einfach den Abzug auf der unteren Seite der Armbrust. Also! Los!“
Mit äußerster Vorsicht legte Fenian den ersten Bolzen ein. Er war langsamer als die anderen, die bereits damit begonnen hatten die Zielscheibe anzuvisieren. Allein die Waffe mit seinem verletzten Arm festzuhalten ließ stechende Schmerzen durch seinen gesamten Arm fahren, doch er bemühte sich sie so gerade wie möglich auf sein Ziel zu richten. Ruhig zielte er auf den Strohballen.
Er wollte abdrücken, den Bolzen sehen, wie er sich seinen Weg durch die Luft bahnte und in das Ziel einschlug, doch irgendetwas in Fenian ließ ihn zögern. Etwas hatte sich verändert. Die Luft stand nicht mehr still, wie noch ein paar Stunden zuvor. Leichter Wind war aufgezogen. Abwartend blickte Fenian zum Himmel empor, tatsächlich verdunkelte sich das Blau weit hinten am Horizont. Wolken.
Strähnen roten Haars wehten sanft in Fenians Sicht, während er wieder seinen Blick auf die Zielscheibe richtete. Er versuchte wieder auf die Mitte zu zielen, doch ihn störte etwas. Wenn er das Ziel wirklich mittig treffen wollte konnte er doch jetzt nicht mehr nach Anweisung handeln. Falls sich der Pfeil auch nur ansatzweise so verhalten würde, wie die Geschosse einer Schleuder, dann würde er auch genauso vom Wind in eine Richtung gedrückt werden, wenn er abgeschossen würde.
„Wie lange willst du dir noch Zeit lassen, Jungchen?!“ Fenian wurde unsanft durch die Stimme des zuvor gelangweilten Einweisers aus seinen Gedanken gerissen. „Jeder andere hat es schon geschafft, überhaupt einmal das Ziel zu treffen und du, du stehst hier immer noch herum und wartest darauf, dass die Zeit vergeht? Schieß endlich!“
„Ja, Sir!“, erwiderte Fenian hastig. Bedacht richtete er die Armbrust erneut auf die Zielscheibe, diesmal jedoch ein wenig weiter nach rechts oben als zuvor. Mit einem lauten Schnarren löste sich der Bolzen von der Armbrust und schnellte hervor. Ein scharfer Schmerz durchzuckte Fenians Arm und Schulter nach dem Abschuss, der Rückstoß übte mehr Belastung auf seine Wunde aus, als er erwartet hatte. Beunruhigt betrachtete der Rothaarige seinen Verband, der sich unaufhaltsam mit  Blut tränkte. Mit zitternden Händen und tiefen Atemzügen lud er die Armbrust nach und brachte sie erneut in Position. Gedankenversunken presste er seine Lippen aufeinander und schoss. Erst jetzt entspannte er sich etwas. Zwei Schüsse. Einen hatte er noch. Fenian wollte seine Armbrust gerade wieder spannen, als ihn der Aufseher davon abhielt. „Das genügt. Du hast uns schon lange genug aufgehalten.“ Der junge Mann wollte protestieren, doch er ließ es bleiben. Mit hängenden Schultern legte er den Bolzen wieder zurück und die Armbrust, neben dem Köcher, ab.
Nur kurz schweifte sein Blick über die Strohballen, die als Ziele fungiert hatten; etwas irritierte ihn. Nun musste er einen genaueren Blick auf sie werfen. Er konnte in seinem Ballen zwei Bolzen stecken sehen, die nahe beieinander lagen, sogar so nahe, dass der Rothaarige sie fast nicht auseinander halten konnte. Ein breites Grinsen machte sich auf Fenians Gesicht breit, als ihn einer der nächsten Rekruten von seinem Platz schob. Er hatte die Mitte getroffen. Ihm war egal, dass es nur der äußere Rand war. Er hatte getroffen und das, trotz seiner Verletzung, weit besser als die, die mit ihm an der Reihe gewesen waren.
Die Prüfungen waren zu Ende – das Warten begann. Für Fenian die schlimmste Zeit. Bereits auf seiner Suche nach Arbeit war es für ihn das Schlimmste gewesen zu warten, egal auf was. Jemandem gegenüber zu stehen, der im Gegensatz zu ihm einen gewissen Status – und sei es nur, dass derjenige einen Beruf ausübte – innehat, verunsicherte ihn. Seine Hände fingen an zu zittern und zu schwitzen, sein Atem ging unregelmäßig. Ein flaues Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit, so dass er Angst hatte, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Doch ihn verunsicherte noch etwas. Was sollte er tun? Konnte er es riskieren, sich mit jemandem zu unterhalten, oder würde er dabei wieder einen Fauxpas nach dem anderen begehen?
Unruhig schritt Fenian über den Platz, beobachtete wie sich einzelne Gruppen bildeten, die sich aufgeregt unterhielten, oder sich daran machten sich so nah wie möglich am Ausgang der Kaserne zu positionieren, um schnell wieder gehen zu können. Gerade jetzt wurde ihm erneut klar, wie einsam er doch war. Ein schwaches Seufzen entrang seinen Lippen, als er zu Achroit hinüber sah. Er war umringt von jungen Männern, die scheinbar alle aus dem Innern der Stadt kamen und Achroit selbst passte nur zu gut in ihren Kreis. Nicht einmal eine einzige Regung glitt über sein Gesicht, als er Fenian in der Menge erkannte.
Was hatte Fenian eigentlich erwartet, nach den paar Tagen, in denen sie sich kannten. Dass Achroit ihn als Freund ansehen würde? Ihn den größten Außenseiter den das Militär wohl seit jeher gesehen hat? Mit einem Stich des Bedauerns – für sich selbst – musste er sich eingestehen, dass er es geglaubt hatte. Er hatte gedacht, dass er endlich einen Freund gefunden hätte, dem es egal gewesen ist, was er war.
Der Rothaarige war bereits einige Male über den Platz gelaufen, als endlich die Stimme eines der Offiziere über den Platz schallte. Er verlas, welche Rekruten es geschafft hatten aufgenommen zu werden und in welche Corps sie eingeteilt wurden. Anfangs hörte Fenian noch aufmerksam zu; natürlich wurde Achroit den Schwertkämpfern zugeteilt; doch nach einiger Zeit, und einer gefühlt endlos langen Liste an Namen, hörte Fenian auf zuzuhören und betrachtete die Viadukte.
Wie es wohl gewesen sein musste, in der Zeit zu leben, als diese riesigen Monumente errichtet worden waren.  Sicherlich war es eine bessere Zeit als diese.
Erst als der letzte Corps aufgerufen wurde hörte Fenian wieder etwas genauer hin. Er wollte wenigstens nicht das Ende verpassen, ab wann ihn seine Hoffnung vollends genommen würde.

„Zum Schützencorps wurden folgende Rekruten zugelassen. Nummer eins: Delarai, Rutil. Zwei: Forel, Beekit –“ Immer mehr Namen reihten sich aneinander und Fenian war schon bald von vor Freude erhellten und von Niedergeschlagenheit verdunkelten Gesichtern umgeben. Ein tiefes Seufzen erschütterte den Soldaten, der auf dem Podest stand und die Namen verlas, es war der Aufseher Teru, der ihn noch vor ein paar Stunden nach Hause schicken wollte. „Und der letzte, der in dieser Periode aufgenommen wird, Nummer Zehn – Carya, Fenian.“

Samstag, 19. Januar 2013

Cesc



Sobald die schrille Glocke zum Abend erklang, ließ Cesc die Feder fallen. Er war noch lange nicht fertig, doch er konnte die vielen Gedanken über diese ganzen Dinge, die ihn so verärgerten, nun endlich ruhen lassen. Der Stuhl ächzte, als er sich zurücklehnte, seine schmerzenden Hände rieb und sein müder Blick durch das Büro wanderte. Doch wieder zog der Schreibtisch Cesc Blick an. Den chaotischen Haufen von Papieren, - Listen mit unbekannten Namen; Bilder von halben Armbrüsten; Anweisungen, wie man diese benutzt; - all diesen Kram, den Cesc so hasste, würde er morgen neu ordnen müssen und aufs Neue anfangen.
Als der Blick seiner hellgrauen Augen, die einst scharf und klar waren, den Schreibtisch entlang wanderte, stockte er bei der gerahmten Zeichnung, die schon fast fünf Jahre dort stand. Cesc streckte die Hand aus, um sie zu berühren, doch hielt inne. Er hatte sie selbst gezeichnet, auch wenn er kein großes Talent besaß, war sie ganz ordentlich geworden.
Als man ihm sein Pferd abgenommen hatte, und Cesc sich so hilflos wie niemals zuvor gefühlt hatte, beschloss er, eine Zeichnung von seinem geliebten Jorrik anzufertigen. Eines Tages würde die Erinnerung an seinen besten Freund verblassen, und so saß er damals, vor fünf Jahren in den bitterkalten Winternächten bei Jorrik im Stall und versuchte alles, was er an dem Tier so liebte, festzuhalten. Doch Cesc ahnte, dass er in einiger Zeit den Duft des Heus, der morgens an Jorriks Fell haftete, vergessen haben würde. Genauso wie das goldene Schimmern, das die ersten Sonnenstrahlen auf seinen Rücken und die Flanken malte. Und seine Augen. Seine wunderschönen grünen Augen. Kein anderes Pferd der gesamten Kaserne besaß solch eine besondere Augenfarbe. Cesc würde sich auch irgendwann nicht mehr an das Gefühl erinnern, dass er hatte, wenn er in Jorriks Augen blickte. Dieses Gefühl, dass alles wieder besser werden würde, - dass Erzen wieder in einem Grün erstrahlen würde, dass dem der Augen Jorriks glich.
Cesc konnte sich noch immer an seinen einzigen, treuen Freund erinnern. Wenn er die Zeichnung sah, hörte er das tiefe ruhige Atmen, fühlte das seidene warme Fell an seinen Fingerspitzen, es schien so nah, doch wenn er dann nur die Kälte des Messingrahmens spürte…
Cesc blinzelte und zog seine Hand, die noch immer vor der Zeichnung in der Luft schwebte, zurück und scharte die Papiere so laut wie möglich zusammen. Er war müde, und zusätzlich hatte sich vor einigen Stunden ein penetrantes Übelkeitsgefühl zu seinen Magenschmerzen, die er seit Monaten mit sich rumschleppte, gesellt. Er redete sich ein, die Übelkeit würde vom Hunger rühren. Seit Sonnenaufgang hatte er nichts gegessen. Gleichsam wusste Cesc aber insgeheim, dass nicht der Hunger schuld an seinem Leid war, sondern die düstere Vorahnung, was passieren würde, wenn er in ein wenigen Tagen seine junge frische Einheit einweisen musste.
Cesc rückte seine Uniform zurecht und machte sich zum Abendessen auf. Als er durch die Gänge wandelte und die ein oder anderen jungen Gesichte schüchtern auf seine Abzeichen blickten, wurde sein Ekelgefühl etwas stärker. Seit einer Ewigkeit glorifizierten sie alle, wie sicher und nobel die Arbeit für das Militär sei, doch in Wahrheit ging das Militär genauso unter wie ganz Erzen. Cesc hatte sich bereits daran gewöhnt, nicht mehr alle Privilegien seines hohen Dienstgrades genießen zu dürfen, doch die beschämende Degradierung zum Ausbilder schlug ihm wortwörtlich auf den Magen.
In dem großen Speisesaal herrschte schon reger Betrieb. Es wurde laut gelacht und hitzig diskutiert, wobei sowohl das eine wie auch das andere Cesc zuwider war. Er lief an der Essensschlange vorbei direkt zur Ausgabe.
„Was wird uns denn heute Gnadenvolles beschert?“, fragte er das neue Mädchen hinter der Theke.
„Dornwurzeintopf“, murmelte das blutjunge Ding. Sie erstarrte, als zu Cesc Brust blickte und fuhr stotternd fort.
„Verzeihung, ich…Ich glaube, in der Offiziersküche gibt es Rosslende mit Kirschkraut und Butterkuchen…mein Herr.“ Das alte Weib, das wohl bei dem Wort ‚Offiziersküche’ hellhörig geworden war, eilte herbei, so schnell es ihr krüppeliger Fuß erlaubte.
„Ich bitte um Vergebung für dieses törichte Kind, Leutnant. Ich schicke sofort jemanden in Ihr Büro…“ Cecs’ Übelkeit wurde stärker als er an die Rosslende dachte und in das zahnlose, rote Gesicht der Alten sah.
„Nein danke, ich nehme den Dornwurzeintopf.“ Die Alte sah Cesc so erschrocken an, als fürchtete sie, man würde sie für diesen Vorfall hinauswerfen. Das junge Mädchen schöpfte eilig die schwarze Brühe in einen Blechnapf und reichte ihn mit zittrigen kleinen Händchen über die Theke. Cesc nahm ihn wortlos entgegen und steuerte Richtung Ausgang. Der Lärm und die ganzen Leute waren Cesc heute wieder zu viel. Er ging den Weg an den Offiziersräumen rasch entlang und hoffte, die Ruhe würde währen.
„Edricson!“ Cesc blieb seufzend stehen und betete mit geschlossenen Augen, diese Unterhaltung würde nicht lang dauern. Er kannte diese schneidige Stimme zu gut, doch als er sich umdrehte und geradewegs auf die glänzenden Abzeichen einer breiten Brust starrte, stockte ihm der Atem.
„Guten Abend, Leutnant, Sie sind ja immer noch nicht gewachsen!“ Als Cesc seinen Blick nach oben richtete und in ein Gesicht sah, das sicher enttäuscht wäre, wenn niemand über seinen Witz lachen würde, machte sich eine wütende Stimmung in Cesc breit.
„Guten Abend, Hauptmann, womit kann ich dienen?“ Cesc sah am Ende des Ganges einen jungen Burschen, der einen Stapel Papiere in ein Büro bringen sollte. Als er Cesc und den Hauptmann sah, drehte er sich abrupt um und stolperte den Weg zurück.
„Haben Sie es eilig, Edricson? Ist dieser Schleim alles, was Sie essen wollen?“ Als Cesc keine Antwort gab, fuhr der Hauptmann leicht irritiert fort.
„Ich wollte fragen, wie die Vorbereitung auf die neuen Einheiten vorangeht. Ich möchte dem Generalleutnant gute Neuigkeiten bringen.“ Der Hauptmann wippte auf seinen Fußballen, vermutlich um seine Größe vor Cesc noch etwas zu unterstreichen. Cesc spürte schon lange keinen Eifersuchtsstich, den er in seiner Jugend mit sich getragen hatte. Er hatte sich damit zurecht gefunden, dass die meisten Leute größer waren als er.
„Hauptmann, ich fürchte, ich kann Ihnen diese Frage nicht zufriedenstellend beantworten. Man muss sich an neue Aufgabengebiete gewöhnen, und die Tatsache, dass alle Feldwebel, die mit der Ausbildung neuer Rekruten vertraut waren, wie vom Erdboden verschluckt sind, ist nicht förderlich. Niemand kann uns Leutnants dabei helfen.“ Cesc hatte kein gutes Gefühl dabei, vor seinem Vorgesetzten dem Ärger Luft zu machen. Der Hauptmann sah ihn scharf an, räusperte sich und antwortete erstaunlich ruhig.
„Wir wissen doch alle, dass die Feldwebel nicht vom Erdboden verschluckt sind, Sie müssen die Wichtigkeit…“ Der Hauptmann sah sich zu dem Burschen um, der bereits wieder um die Ecke geschlichen war. Der Hauptmann räusperte sich erneut.
„Edricson, Sie sind der einzige Leutnant, der ausbildet.“ Er sah Cesc mit einem steinernen Gesichtsausdruck an. Cesc spürte die Wärme aus seinem Körper schwinden und ein lautes Pochen in den Ohren. Die Magenschmerzen wurden nun so stark, dass er fürchtete, nicht aufrecht stehen zu können.
„Die Ausbildung ist in den Händen niederer Dienstgrade. Aber wir haben Sie mit hineingezogen, Edricson, wissen Sie….“ Der Hauptmann sah nun starr die Wand an.
„Wir haben gemerkt, dass Sie nicht mehr mit so viel Feuer bei der Sache sind. Daher der neue Aufgabenbereich. Vielleicht wird Ihnen das wieder Freude bereiten…die vielen neuen frischen Gesichter. Das verstehen Sie doch… Leutnant.“ Die kleinen Augen des Hauptmanns ruhten sorgenvoll auf Cesc Scheitel, er hatte seinen Blick wieder den glänzenden Abzeichen zugewendet.
„Um Ihre ursprüngliche Frage zu beantworten, Hauptmann“, begann Cesc mit kalter Stimme,
„Es geht voran. So schnell es geht, wenn man einen Schützentrupp anleiten muss ohne je ein Schütze gewesen zu sein.“ Cesc’ Stimme brach ab.
„Ach, Leutnant Edricson, Sie sind doch ein kluger erfahrener Mann, der Schützentrupp ist doch keine Aufgabe, das ist doch nur…“
„…die niedrigste Einheit.“ Cesc’ Augen und die des Hauptmanns trafen aufeinander. Für einen langen Moment herrschte trockene Stille. Der Hauptmann schluckte, holte tief Luft und stieß den Zeigefinger bedeutungsvoll in Cesc’ Brust.
„Nun, Edricson, zu diesem Thema habe ich Sie aufgehalten, ich möchte Ihnen etwas zeigen. Gerade Ihnen, da Sie ja nun die Schützen anführen. Kommen Sie mit!“ Der Hauptmann packte Cesc’ Schulter und führte ihn einen langen Weg durch die Kaserne entlang. Ohne Unterbrechung oder Achtung vor Cesc’ Magenschmerzen redete er weiter auf ihn ein.
„Das ist alles noch sehr geheim, was ich Ihnen gleich zeigen werde, aber ich dachte mir, dass Sie der richtige Mann sind, Edricson. Sie behalten Sachen für sich. Daher sind Sie auch der erste, dem ich dieses Schmuckstück zeige.“ Der Hauptmann keuchte vor Aufregung als sie die Treppe zu den Kerkern hinabstiegen.
„Der Generalleutnant hat strengste Maßnahmen getroffen, bevor es hierher gebracht wurde, niemand durfte es sehen.“ Cesc hatte bereits die Orientierung verloren, sie befanden sich in einem Teil der Kaserne, den er nie betreten hatte. Sie blieben vor einer schweren Eisentür stehen während der Hauptmann mit seinem Schlüsselbund rasselte.
„Nun erleben Sie ein Stück Geschichte, Edricson!“ Cesc’ Aufregung hielt sich in Grenzen, er war noch immer wütend und müde. Die Tür öffnete sich und ein großes Eisengebilde, ein Rohr auf Rädern, kam zum Vorschein. Cecs’ Blick schien der Situation wohl unpassend zu sein.
„Edricson, sehen Sie nur! Das ist die Zukunft der Kriegsführung, eine völlig neue Art der Feuerwaffe!“ Im Gegensatz zum Hauptmann, der aufgeregt um das Ungetüm herumlief, war Cesc’ Laune nun endgültig am Boden. Seine Befürchtung, sich nun mit neumodischem Kram herumplagen zu müssen, hatte sich bewahrheitet.
„Man setzt diese Eisenkugeln in das Rohr, stopft Schwarzpulver hier rein und zündet es an. Sie glauben nicht, was das für eine Durchschlagskraft besitzt, ich habe es selbst gesehen!“
„Hauptmann, verzeihen Sie, das ist alles sehr interessant, aber ich bin sehr müde von dem langen Tag.“ Das leuchtende Lächeln des Hauptmannes wich nun der Enttäuschung. Er hielt immer noch die Eisenkugeln in den Händen.
„Natürlich, Edricson, gute Nacht.“
„Gute Nacht, Hauptmann“, sagte Cesc, als er schon auf dem Weg hinaus war. Die Leere in seinem Inneren war einem Steinbrocken gewichen, der mindestens so viel wog wie diese Feuerwaffe. Der Hauptmann mochte sich so viel rausreden, wie er wollte, Cesc wusste, dass man ihn abschob. Seit ihm Jorrik abgenommen wurde, war er unbrauchbar geworden. Er fühlte sich wie ein Greis; gebrechlich, müde und langsam. Der lauwarme Wind durchfuhr tröstend sein schütter werdendes Haar, als er den Weg aus der Kaserne anschlug. Er konnte auch heute Nacht nicht hierbleiben, es zog ihn hinaus. Als er durch die Straßen zog, die jenseits der Kaserne lagen, konnte er für einen Augenblick seine Sorgen vergessen. In den meisten Baracken brannte noch Licht und hie und da war Klappern und Schlurfen zu hören. Cesc war unglücklich und unnütz, doch er hatte es gut. Er musste nicht wie die Zivilbevölkerung am Hungertuch nagen und jeden Tag bangen, ob er diese Woche überlebte. Er steuerte in die Querstraße, in der die großen Ziegelbauten standen. Nur die reichsten Erzener konnten sich darin eine Stube leisten. Als Cesc die Tür zum Haus erreichte, sah er am Straßeneck zwei kleine dunkle Gestalten und erkannte die lockigen weißen Haare sofort. Mit großen Schritten ging er auf sie zu. Der kleine Sohn der Schusterin kauerte mit einem noch kleineren Mädchen in der Ecke und trat nach Kieselsteinen.
„Ihr solltet bald nachhause gehen, es ist schon dunkel“, rief Cesc. Der kleine Junge starrte mit seinen schielenden Äuglein auf Cesc und grinste breit.
„Ist das deine Schwester?“ fragte Cecs laut und langsam. Der Kleine nickte und zog das Mädchen näher an sich ran. Sie hatte einen Klumpfuß und eine stark laufende Nase.
Cesc mochte die Schusterin, sie war eine tüchtige und gute Frau. Doch er hatte nicht um ihre Hand angehalten, da es sich nicht für ihn schickte, eine Witwe mit schwachsinnigen Kindern zu heiraten, auch wenn sie noch so lieblich waren. Cesc’ Magenschmerzen trafen ihn wieder, er gab den Kindern den Blechnapf mit dem kalten Eintopf und ließ sie versprechen, etwas davon für die Mutter aufzuheben. Dann ging er zurück zu dem Haus und hoffte, die heutige Nacht würde nicht so kurz werden wie die letzte. Er wurde noch vor Sonnenaufgang von dem vermaledeiten Vogel geweckt, der an das Fenster seines Nachbarn pickte. Ein schöner weißer Falke. Eigentlich sehr unüblich für diese Gegend. 
Als er im zweiten Stockwerk unter dem Dach angekommen war, legte er seine Uniform ab und lugte durch das kleine Fenster auf die Straße hinunter. Die Kinder waren verschwunden. Cesc hoffte, dass seine Schmerzen das morgen auch sein würden, während er in sein Bett kletterte. Er versuchte seinen Geist zu leeren und an schöne Dinge zu denken. Das sanfte Lächeln der Schusterin. Rotglänzendes Fell. Grüne Augen.

Sonntag, 28. Oktober 2012

Sahel


Aufgeregt hörte Voline ihren tuschelnden Freundinnen zu. Sie hatte es geliebt den Älteren zu lauschen, wenn sie von den rituellen Tänzen vor dem Tempel des Feuers erzählt hatten. Dieses Jahr jedoch war sie endlich alt genug, dass sie selbst dabei sein konnte. Sie durfte mit ansehen, wie die Freiwilligen Tänzer, diese anmutige, akrobatische Aufführung vorführten. „Und erinnerst du dich noch an letztes Jahr?“, Ajna hatte nun das Wort ergriffen, ihre dunklen Locken, sprangen vor Aufregung hin und her. „Dieser blonde Junge?! Oh, er war traumhaft! So anmutig und schön!“, stimmte Florentina in Ajnas zuckersüßes Gekicher mit ein, während Voline nur weiter auf die Masse von Menschen vor ihnen starrte. Bereits am Morgen hatten sie sich die besten Plätze für die Vorstellung gesichert und hatten nun freie Sicht auf den Festplatz. Wie viele Männer und Frauen genau dort standen konnte sie nicht erkennen, aber es war bereits ein Spektakel zu sehen, wie sie ihre Plätze einnahmen. Die langen, fließenden Gewänder wurden vom aufziehenden Wind hin und her geweht und der auffällige Schmuck funkelte wild im Licht der untergehenden Sonne. Noch immer tuschelten die anderen Mädchen aufgeregt, während dumpfe Trommelschläge erschallten.
Voline betrachtete das Schauspiel vor sich mit weit aufgerissenen Augen. Noch nie hatte sie etwas so schönes gesehen, wie den dutzenden Menschen, die sich in vollkommener Harmonie mit der Musik bewegten. Unruhig tippelte sie hin und her, mitgerissen von der Musik und den Bewegungen. Rauschend und immer schneller floss die Menge an Tänzern immer näher an die Zuschauer heran. 
„Da!“, fast schreiend zeigte Ajna auf einen jungen Mann, der gerade in eine Figur mit eingebunden war. In ihren Augen lag ein träumerischer Ausdruck, doch er währte nicht lange. Ein kreischen und ein plötzliches Gewicht auf Volines Schulter war das erste was sie wirklich realisierte. Sie hatte wie durch einen Schleier wahrgenommen, wie einer der Tänzer von einem Sprung vor der Masse aufgekommen war und in die Zuschauer gestolpert war.
Mit weit aufgerissen Augen starrte sie der junge Mann an. Seine stahlgrauen Augen schienen so voller Ekstase, und doch so rein und unschuldig zu sein, wie die eines Kindes. Ein sanfter Schauer lief über Volines Rücken, als sie der Hand auf ihrer Schulter gewahr wurde, die so warm und angenehm auf ihrer Haut lag. Sein Atem ging stoßweise vor Anstrengung über seine fein geschwungenen Lippen.  Strähnen langen blonden Haars fielen ungebändigt über die feinen Züge des jungen Mannes, als er sich von dem Mädchen abwandte und wieder zurück in die Reihen der Tänzer eilte. Nur einen Moment hatte er so verweilt, doch für Voline hatte es eine Ewigkeit gedauert. Verwundert sah sie ihm nach, dem seltsamen Jungen mit den tanzenden Schritten und den Augen in denen sie ertrinken wollte.

Als Sahel sich seinen Weg durch die Tänzer auf dem Platz vor dem Tempel bahnte, leuchtete die Sonne noch immer in leuchtenden Farben am Horizont. Mit Leichtigkeit tanzte er zwischen den sich wiegenden Körpern hindurch, bis zum großen Portal des Feuertempels. Ein kleiner Stich durchzuckte ihn, als er an die verpatzte Landung nach dem Sprung dachte. Jedoch musste er sich eingestehen, dass der Blick des Mädchens auf eine gewisse Art und Weise faszinierend war. Ihre dunkelblauen Augen hatten vor Aufregung geleuchtet.
Mit einem Lächeln betrat der junge Mann den Tempel. Der vertraute Geruch von Weihrauch und Myrre hüllte Sahel ein, als er so schnell wie möglich die Distanz zwischen dem Portal und der Klippe zur Schlucht des Erris überwand. Immer wieder versetzte ihn der Anblick des Tempels in Erstaunen. Die schmalen Säulen, die die reichlich verzierte Decke trugen, ragten, wie die hohen Zypressen in den  Hainen nach Oben, dem Himmel entgegen.  Starke Mauern, angefüllt mit den Darstellungen der Gründung Priaerias und ihrer Teilung, mit dem Verlust der Magie und der Bewahrung ihrer letzten Überbleibsel, streckten sich nach oben und bildeten den länglichen Körper des Haupthauses. 
Mit Ehrfurcht erfüllt schritt Sahel die letzten Stufen zum eigentlichen Herzstück des Tempels nach oben.  Ein Schwarzes Loch klaffe dort, wo eigentlich die südliche Mauer sein sollte und gab den Blick frei, auf die Leere, die die Schlucht des Erris in die Landschaft riss.  Über die gesamte Breite der Klippe erstreckte sich ein riesiges Becken in dem  das ewige Feuer brannte. Und nun war es an Sahel, dass er das Feuer weiter schürte.
Mit tiefen Atemzügen sog er die von Dämpfen erfüllte Luft des Tempels ein, als er den ihm zugewiesenen Platz,  in der Mitte der Empore, erreicht hatte. Lautlos traten mehrere Tempeldiener an ihn heran. Ihre Gesichter waren fast gänzlich von Schleiern verdeckt, nur ihre Augen konnte er erahnen. In allen lag tief verwurzelte Erwartung und Hoffnung. Während nun im Inneren des Tempels die eigentliche Zeremonie abgehalten werden würde, spielte sich auf dem Festplatz der Hauptakt des Tanzes ab. Angestrengt versuchte Sahel sich daran zu erinnern, wer im letzten Jahr seinen jetzigen Platz innegehabt hatte, aber er konnte sich nicht daran erinnern.
In einem perfekten Kreis hatten sich die acht Männer und Frauen um ihn aufgestellt und warteten mit glühenden Augen darauf, dass Sahel seinen Part erfüllte. Ein leicht mulmiges Gefühl erfüllte den Jungen, als er dort stand und alle Erwartungen auf ihm lasteten, doch es war eine Ehre die Zeremonie des ewigen Feuers ausführen zu dürfen und so nahm er all seinen Mut zusammen und sprach die Worte, die von ihm verlangt wurden: „In gänzlicher Aufrichtigkeit stehe ich hier, reinige mich im Angesicht des ewigen Feuers. Ich gebe mich ihm Hin, mein Herz, meine Seele. Für immer und Ewig diene ich ihm. Das ewige Feuer bleibt stets in meinen Gedanken, in jeder Sekunde unerreichbar schön. Ich stehe ein für das, was es mir zeigt und werde alles mir mögliche versuchen um Missstände zu vertreiben. Für das ewige Feuer gebe ich mich auf.“ Ein schwaches Seufzen entglitt Sahels Lippen als er die Worte ausgesprochen hatte. Nun war es so weit. Er war Teil des Rituals.
In vollkommenem Gleichschritt traten die Acht vor Sahel. Vorsichtig nahmen sie den Schmuck von den Gewändern des Jungen ab und trugen ihn zu dem Feuerbecken an der Klippe. Wie durch einen Schleier bekam Sahel mit, was sie taten, sah verschwommen, wie sich dunkler Rauch von den Stellen emporhob, wo sein Schmuck und seine Kleidung verbrannt wurde. Er spürte eifrige Finger an seinem Kopf, die die Spangen und Bänder lösten, mit denen sein Haar zuvor hoch gesteckt war und das Gewicht, als es sich wieder in sanften Locken über seinen Rücken ergoss. Immer und immer wieder murmelten die Tempeldiener  in einem halblauten Singsang die selben Worte. „Flammendrot im Einklang steht mit blassem Mondenschein.“
Sahel hatte sich schon immer gefragt was diese Worte zu bedeuten hatten: Bleicher Mondenschein… Der Blick des Jungen fiel erneut auf die Öffnung der Tempelmauer. Der Mond war noch nicht aufgegangen, doch die ersten Sterne glühten in der aufziehenden Dunkelheit. Ein kalter Wind fegte durch die Öffnung und ließ Sahel zittern. Nur noch die feine Leinenhose, die unter den seidenen Gewändern getragen wurde, schützte Sahel vor der Kälte der Nacht. Mit nackten Füßen spürte er den rauen Steinboden, der von den lodernden Flammen gewärmt wurde. Die Acht hatten in einer Reihe vor der Treppe ihre Plätze eingenommen.
Wie ein einem wilden Rausch verflog die Zeit vor Sahels Augen. Die Ekstase des Tanzes übernahm völlig seinen Geist, während er von den Gesängen der Tempeldiener und den dazu strömenden Tänzern getragen wurde.  Sie sangen von Liebe und Hass, von Freundschaft und Feindschaft und von einem Tyrannen der selbst das stärkste Band des Blutes zerstören konnte. Sahel konnte sich nicht erwehren zu denken,  dass der  Tyrann ihr Gott selbst sein konnte und doch war es so abwegig, dass der der ihnen grünes Land und fließende Flüsse schenkte so grausam sein konnte. 
Das Rot der Flammen spiegelten sich in den Augen des Jungen, so lebendig, dass es schien, als ob ihr heißes Glühen die Kälte des Graus in ihnen gänzlich vertreiben wollte.  Schafe Schatten ließen seine Bewegungen, die sonst so anmutig und zart waren, wie der Flügelschlag eines Vogels, hart und grob wirken. Und doch war der Anblick des Jungen für jeden Zuschauer faszinierender als irgendetwas sonst. Denn sie warteten. Warteten auf das Zeichen, das er auserwählt war von ihrem Gott eine Vision zu empfangen, die ihnen zeigte, welche großen Ereignisse bevorstanden.
Doch daran dachte Sahel nicht. Er wollte sich nicht von den Gedanken an ein großes Schicksal oder baldige Begebenheiten beschweren lassen. Für ihn zählte nur der Tanz. Die Bewegungen seines Körpers, die er in den unzähligen Übungen trainiert hatte erfüllten endlich ihren Zweck, als seine nackten Füße über den rauen Steinboden glitten und die kühle Nachtluft über seine Haut strich. Gleich den Gesängen, die immer schneller und ekstatischer wurden, bekam auch sein Tanz eine leidenschaftlichere Note.
Ungestüm und wild drang ein Schrei aus der Kehle des Jungen. All das Grauen, das in Sekunden in seinen Körper eindrang, versuchte durch diesen einen Laut wieder hinaus zu treten, doch es blieb haften. Wie der bittere Nachgeschmack einer Lüge auf ewig die Seele befleckte, blieb der Schrecken in Sahels Geist zurück. Unzählige Bilder und Gefühle durchströmten ihn, bis sein Körper es nicht mehr ertragen konnte. 
Die Beine des Jungen knickten unter der Last seines eigenen Körpers ein; er schlug auf dem Boden des Tempels auf. Nur die aus dem Nichts erscheinenden Arme eines der Tempeldiener bewahrten ihn davor vollkommen zu Boden zu sinken. Woher er kam war egal. 
Tränen rannen aus den vor Schreck geweiteten Augen des Jungen. Sein Blick war noch immer apathisch auf die schwarze Leere der Nacht gerichtet, die unheilvoll ihre Dunkelheit in die Gemäuer des Tempels ausstreckte. Nur eine einzige Frage drang aus dem aufkeimenden Stimmengewirr zu Sahel durch: „Was hast du gesehen, Junge?“


Voline gefror noch immer das Blut in den Adern, als sie sich an den Schrei erinnerte, der über den Festplatz geschallt war. Verzweiflung und Hilflosigkeit waren gleichsam mit purer Angst in ihm erklungen. Wie in Trance war sie ihren Freundinnen gefolgt, die in aufgeregtes Getuschel vertieft waren. Der Weg erschien ihr verschwommen, so irreal, wie die zum Tempel drängenden Menschen auf dem Platz.
Nach und nach waren die Zuschauer immer näher an den Tempel gerückt, doch Voline hatte sich nicht getraut. Einige Tänzer hatten versucht sie aufzuhalten, doch die Masse riss sie einfach mit sich. Voline hatte gehört wie Florentina erklärte, dass es schon seit Jahren niemanden gegeben haben soll, der während der Zeremonie eine Vision erhalten hatte. Sie hoffte, dass wenn es jetzt der Fall war, es ein gutes Omen war, doch das gleichsam mischten sich Zweifel in ihre Gefühle. Wie konnte ein solcher Schrei nur etwas Gutes verheißen?
„Musst du heute Abend wirklich bei deinen Eltern bleiben?“, Ajnas Stimme klang trotzig. „Warum kannst du nicht bei mir übernachten? Tania hat nichts dagegen, genau so wenig wie mein Kreis, sie lieben dich, wie ihr eigenes Kind.“ Seufzend ließ Voline ihre Schultern sinken. „Ich weiß, aber ich kann nicht. Adenias Bedingung, dass ich mit euch kommen darf, war, dass ich danach sofort nach Hause gehen muss.“ So ganz aufrichtig war sie nicht zu ihren Freundinnen, aber den wahren Grund durfte sie ihnen nicht sagen. Innerlich war sie jedoch schon so aufgeregt, dass sie die Nacht zuvor kaum schlafen konnte. In dieser Nacht wurde sie endlich in den Orden des ewigen Feuers eingeführt. Eine Ehre, die schon all den Mitgliedern des Kreises um Galaine Kyell zu teil geworden ist. Und nun auch ihr. Endlich durfte sie wie alle anderen Teil des ganzen sein.
„Ja, ja, Adenia sollte nicht immer wie eine Glucke an dir hängen. Sie lässt dich ja keine Sekunde aus den Augen.“Florentina ließ ein ärgerliches Schnauben hören, als sie sich zu den anderen Beiden umdrehte. „Ich muss jetzt hier lang, also passt auf euch auf!“, spielerisch drohte sie den jüngeren Mädchen mit dem ausgestreckten Zeigefinger. „Ich will dass ihr auf schnellstem Weg nach Hause geht und keine Abstecher!“
„Ja, Mama“, kicherten Voline und Ajna gleichzeitig, als sie an ihr vorbeischritten. Nur noch aus dem Augenwinkel konnten sie Florentinas goldblondes Haar im Wind wehen sehen, als sie in die Seitenstraße einbog. „Sie ist ja fast schlimmer als Adenia“, stöhnte Ajna während sie weiter liefen. „Nur weil sie älter ist als wir, muss sie sich nicht immer wie Adenia oder Leila aufführen“, Ajnas Stimme war gedämpft und doch konnte Voline den Ärger in ihr hören. Leila und Ajna hatten in letzter Zeit öfter gestritten, weil sie in ein Alter kam, in dem es wichtig war gute Kontakte zu knüpfen um eine gute Ehe einzugehen, doch Ajna war in ihrem Geist noch ein Kind, das sich noch nicht mit den Problemen des erwachsen Werdens einlassen wollte. 
„Sie will nur, dass uns nichts passiert“, Volines Versuch ihre Freundin zu besänftigen war halbherzig, denn mit ihren Gedanken war sie schon längst bei der Versammlung in der Nacht. Langes Schweigen folgte auf ihre Bemerkung, bis sie am Anwesen der Kyells angekommen waren. „Ich muss jetzt nach Hause. Wir sehen uns Morgen? Ihr seid doch auch am Erris, oder?“ Zögerlich machte sich ein breites Lächeln auf Ajnas Zügen breit. „Natürlich! Dann bis morgen!“, euphorisch schloss Ajna Voline in ihre Arme, ehe sie mit tänzelnden Schritten die Straße weiter entlang spazierte.
Voller Vorfreude trat Voline in das große Anwesen am Rande der Stadt. „Voline, wie schön, dass du endlich da bist! Wir müssen dich schnell fertig machen. Unser Namensträger Galaine und sein Bruder Leucas warten schon auf uns.“ Ein schwaches Seufzen rann von den Lippen der Tochter, als sie ihrer Mutter durch die langen Gänge, in den Teil des Hauses folgte, der ihren Eltern und ihr zugesprochen war. Mit einem Schlag wich all ihre Freude der Resignation. Das einzige Gefühl das sie für den übermäßigen Schönheitskult ihrer Mutter übrig hatte. Sie hätte wissen müssen, dass Adenia wieder ein riesiges Theater um ihr Aussehen machen würde und doch hatte sie sich auf diesen Abend gefreut. 
Eine halbe Ewigkeit verbrachte Adenia damit unnötige Schönheitsprodukte auf dem Gesicht ihrer Tochter zu verteilen und die schweren, schwarzen Locken auf ihrem Kopf festzustecken, ehe sie mit ihrem Werk zufrieden war. Mit größter Sorgfalt wurde Voline in eines ihrer schönsten Kleider gekleidet. Sie selbst kam sich vor, als ob sie zu einem Maskenball gehen würde, auf dem sie keiner erkennen durfte. Doch nichts konnte ihre Vorfreude zerstören, als sie auf dem Weg zum Kellergewölbe waren. 
„Namensträger Galaine, Leucas, es ist wundervoll euch zu sehen.“, Adenias Stimme troff fast vor stolz als sie Voline vor sich schob. „Namensträger Galaine, Leucas, auch ich bin höchst erfreut euer Gast sein zu dürfen.“ Sanft neigte Voline den Kopf, als sie die beiden Männer begrüßte. Auch wenn sie Teil eines Kreises waren, so war der Orden des ewigen Feuers doch eine gänzlich andere Angelegenheit. Nun war sie Teil eines hierarchischen Systems und dessen Vorsitzende war ihr Namensträger. 
„Ich bitte euch, es ist uns eine Freude dich, Voline, in unserem Orden zu begrüßen. Und das hoffentlich nicht nur als Gast.“ Galaines Stimme wob das Mädchen in ein samtenes Netz, sie konnte gar nicht anders als zu nicken und zu lächeln.  Dieser Mann hätte ihr alles sagen können, selbst, dass diese Welt nicht in zwei Teile gespalten war, und sie hätte es geglaubt. Nun verstand auch sie, warum er den Vorsitz über den Orden hatte. „Folgt uns und wir geleiten euch zu den anderen.“ Mit einem Lächeln öffneten die beiden die Flügeltüren zur Säulenhalle. Nun war es so weit, sie konnte nicht mehr zurück und jetzt überfiel auch sie ein mulmiges Gefühl, doch sie schüttelte es ab und schritt durch die Türen ihrem Schicksal entgegen.


Das vertraute Geräusch von Flügelschlägen umhüllte Sahel, wie das wilde Rauschen des Erris. Flatternd öffnete er die Augen und wünschte sich im gleichen Moment er hätte es nicht getan.  Noch immer drang kein einziger Sonnenstrahl durch das Fenster in seinem Zimmer, nur die kümmerlichen Reste der Kerzen auf dem Waschtisch erhellten den Raum.  Vorsichtig stand Sahel auf, mit jedem Schritt das aufkommende Schwindelgefühl bekämpfend, das ihn befiel. Noch immer suchten ihn die Bilder heim, die er während der Zeremonie gesehen hatte. Verdorrte Erde lag neben ausgetrockneten Flussbetten, in deren Nähe verbrannte Sträucher die einzige Vegetation waren, die noch überlebte. Kein Mensch wanderte auf der Erde, denn sie verschanzten sich in ihren Städten. Doch dadurch verurteilten sie sich selbst zum Tode. Kein Korn, kein bisschen Wasser war mehr zu finden. Kein Wunder also, dass sie auf die Lebensmitteltransporte des Ordens angewiesen waren. 
Sanft strich Sahel über das Gefieder seines weißen Falken, der auf dem Fensterbrett saß. Leucas, sein Vatter, hatte ihm Adoree zu seinem sechzehnten Geburtstag geschenkt. Es war Tradition, dass die Söhne der Familie Kyell einen weißen Falken bekommen, und doch war es das schönste Geschenk, dass ihm sein Vater machen konnte. Auch wenn ihn jedes Mal, wenn er Adoree sah, ein Stich des Bedauerns durchzuckte. Das Band jedoch, das er mit seinem Falken geknüpft hatte war zu stark, um durch dieses Gefühl zu bersten. „Und was hast du mit mitgebracht?“, flüsterte Sahel, während er die kleine Papierrolle von ihrem Fuß losband. „Du bist bestimmt müde, meine Kleine. Ruh dich aus.“ Mit einem lauten Kreischen hob sich der Falke vom Fensterbrett und flog in die Nacht. Sehnsuchtsvoll blickte der Junge dem Vogel nach, ehe er die Nachricht entrollte. Ein strahlendes Lächeln erhellte das Gesicht des Jungen. Neue Informationen aus Erzen. 
Ohne zu überlegen stürzte Sahel aus seinem Zimmer, rannte Flure entlang und Treppen hinunter. Sie mussten noch unten sein. Vorsichtig öffnete Sahel die Tür zur unterirdischen Säulenhalle. Die Halle war das kleine Geheimnis der Familie Kyell und ihres Kreises. Als sein Onkel Galaine das Anwesen in der Stadt gekauft hatte, wusste noch niemand von diesem wahren Segen. Keiner der offiziellen Stadtpläne verzeichnete das Kellergewölbe, dessen Gänge weit hinter die Stadtmauern von Priaeria reichten, davon hatte sich Sahel selbst überzeugt. Erst nach ein paar Wochen war einer der Frauen aus dem Kreis, Sahel hatte ihren Namen vergessen, der Zugang zum Keller aufgefallen. Das war der Beginn der regelmäßigen Treffen des Ordens und die Fortsetzung von Sahels Training gewesen. 
Nur einen Moment lang durchströmte den Jungen eine unbändige Sehnsucht nach dem alten Sitz ihres Kreises, nahe dem Waldrand. Er vermisste die Atmosphäre der Trainingsstunden auf der Lichtung im Wald und auch die Möglichkeiten andere Manöver als nur den offenen Angriff zu üben. Seit seinem zehnten Lebensjahr unterrichtete Leucas ihn in all den Kampftechniken, die sie durch den Kontakt mit Erzen erlernt hatten, und auch im Umgang mit den wenigen Waffen, die sie bis dahin über die Grenze geschmuggelt hatten. Mittlerweile waren über zehn Jahre ins Land gestrichen und Sahel zählte zu den besten Kämpfern des Ordens, was auch dran lag, dass seine Mutter ihren Willen durchgesetzt hatte. Sie war es, die mit ihrem unerschütterlichen Glauben Sahel dazu gebracht hat, seit er klein war, die rituellen Tänze des Feuertempels zu lernen.
„Sahel!“, Leucas aufgeregte Stimme schallte durch den gesamten Raum. „Vater…“, seufzte der Junge nur zu hörbar. Auch wenn er sich bemühte, ihm rutschte dieses Wort nur allzu oft in der Öffentlichkeit heraus. Sahel liebte seinen Kreis so wie es sich gehörte, wie eine Familie, doch konnte er sich nicht damit arrangieren seine Eltern herab zu stufen. Er verehrte seinen Vater und seine Mutter, die nicht nur ihr eigenes Leben sahen, sondern auch das derer, die litten. Sein Vater war sein Vorbild, Sahel tat alles was Leucas verlangte um ihn stolz zu machen. Er hatte gelernt zu kämpfen, seinen Falken trainiert und bei der Arbeit seines Vaters geholfen. Deswegen verstand er nicht, warum er sie nicht über alle anderen stellen durfte, warum er sie nur mit ihrem Vornamen ansprechen durfte, als ob sie nur Bekannte für ihn wären, anstatt das was sie sind: die wichtigsten Menschen in seinem Leben.
„Du solltest doch im Bett bleiben und dich ausruhen, Sahel!“, der Ausdruck auf dem Gesicht seines Vaters drückte ernsthafte Besorgnis aus, doch in seinen Augen funkelte etwas anderes. Ein unausgesprochenes ‚wie oft sagte ich dir bereits du sollst mich nicht so nennen‘. „Mir geht es gut, Leucas“, ganz besonders betonte er nun den Namen seines Gegenübers, da bereits jegliche Aufmerksamkeit auf ihnen lag . „Mach dir um mich keine Sorgen, viel wichtiger ist die Nachricht die ich bringe. Adoree ist gerade wiedergekommen und sie trug Neuigkeiten bei sich.“ Gelassen hielt Sahel dem warnenden Blick seines Vaters stand. „Ich werde hier bleiben. Mir geht es gut genug, dass ich diese kleine Botschaft auch den anderen mitteilen kann.“
„Du weißt, dass ich nur dein Bestes will, Sahel“, Leucas Stimme wurde leiser und weicher, als er eine Hand auf die Schulter seines Sohnes legte. „Ich weiß, Vater, aber das Beste für mich ist nicht das Beste für den Orden.“


Als eine der ersten hatte Voline bemerkt, wie sich die Tür hinter ihnen geöffnet hatte und noch jemand eingetreten war, doch es hatte sie nur kurz von der Präsentation im vorderen Bereich der Halle abgelenkt. Galaine erzählte gerade etwas über die neuen Tunnel, die unter dem Anwesen gegraben wurden und das Projekt den Erris zu untertunneln. Für Voline klang das wie pures Geschwätz, egal wie eindringlich die Stimme ihres Namensträgers war, aber ein solches Unterfangen war zum Scheitern verurteilt.  
Aufgebracht unterbrach Leucas seinen Bruder, als er erkannte, wer dort hereingekommen war. Erst jetzt schenkte Voline der Person einen zweiten Blick. Im flackernden schein der Fackeln erblickte sie den jungen Mann, der während des Tanzes fast auf sie gestürzt wäre. Sein blondes Haar war nun nicht mehr nach oben gesteckt, sondern fiel in weichen Wellen über seinen Rücken. Ihr stockte der Atem, als ihr erneut der Ausdruck in seinen Augen in den Sinn kam. Beschämt von ihren eigenen Gedanken schlug sie die Augen nieder, doch selbst das half nichts, sie konnte nun seine schlanke Gestalt sehen, eingehüllt in eine einfache Leinenhose und ein schlichtes Hemd. Er trug keine Schuhe; nichts schütze ihn vor dem kalten, rauen Boden. Mit einem Mal wurde Voline klar, wie aufgedonnert sie aussehen musste und wie unattraktiv sie eigentlich war. Sie war neidisch auf diesen Jungen, der in den einfachsten Kleidern aussah, wie eine erblühende Rose, während sie nur durch Pomp und Tand einen Hauch von Schönheit an sich tragen konnte. 
Mit langen eleganten Schritten durchquerte der junge Mann den Raum. Jedes Augenpaar lag nun auf ihm. Voline hatte nicht darauf geachtet, was er mit Leucas gesprochen hatte, doch der Bruder des Namensträgers schien verstimmt zu sein.  Ein unruhiges Murmeln durchlief den Raum, während Galaine noch einige Worte mit dem Neuankömmling wechselte. Echauffiert lehnte sich eine Bekannte zu Adaine und raunte ihr zu: „Hast du gehört, was er gesagt hat? Benine ist sich sicher, dass er Leucas, „Vater“, genannt hat. Ist das zu glauben? Ich wusste schon immer, dass der Junge keinen Respekt vor den Traditionen unseres Landes hat. Egal wie wichtig er für unsere Pläne ist, so ein Verhalten darf nicht geduldet werden. Wir sind alle gleich!“ Adenia setzte gerade an etwas auf Benines Klatsch zu antworten, als ihr Namensträger um Ruhe bat. Zu gerne hätte sie die Antwort ihrer Mutter gehört, denn ihre Gedanken tanzten Gerade wie wild hin und her. Wenn dieser Junge Leucas als seinen Vater bezeichnete, musste er Sahel sein, der Neffe ihres Namensträgers, und damit auch der Mann von dem ihre Mutter seit Tagen sprach. Sie hatte gar nicht mehr aufgehört davon zu schwärmen, wie gutaussehend und intelligent er doch sein sollte, seitdem sie und Danael, ihr Mann, bei den Kyells zum Essen geladen waren. Voline durfte nicht mitkommen, ihr 18. Geburtstag war noch nicht vorüber gewesen, deswegen hatte sie nicht gewusst, wie sie sich diesen Sahel vorstellen sollte. In ihren Gedanken war er ein großer muskelbepackter Mann gewesen, der nur von Kriegsführung und Kämpfen Ahnung hatte, aber nicht von Schönheit und Anmut. Dass Sahel jedoch einer der begabtesten Tänzer des Tempels des Feuers war, das ließ sie nun doch erstaunt zurück. 
„Meine Familie, meine Freunde, mein geliebter Kreis“, die klare Stimme Sahels legte sich wie Balsam über die aufgeregte Stimmung in der Halle. Er war also ganz der Onkel was das einnehmende Wesen anging. „Es legt sich Trauer auf mein Herz, dass ich erst jetzt zu euch stoßen konnte. Ihr müsst mein Fehlen entschuldigen. Einige von euch wissen es bereits, euch anderen werde ich es nun sagen. Ich war bei der heutigen Zeremonie des Feuers auserwählt zu tanzen, jedoch nicht nur auf dem Festplatz. Für die heutige Nacht hatte ich mich ganz dem ewigen Feuer und seiner heiligen Flamme verschrieben. Ich tanzte, bis sie mir unseren Weg zeigte, das Leid, das vor unserem Blick verschlossen bleibt aus zu löschen.“  Erneut hallte aufgeregtes Gemurmel von den hohen Wänden der Säulenhalle wieder. Volines Blick lag aufmerksam auf der Gestalt des jungen Mannes, der dort vorn stand. Sein Kreuz durchgedrückt, die Schultern gestrafft. Sie wusste von Adaine, dass er einer der Männer war, der wirklich Kämpfen konnte. Doch nun wusste sie noch etwas: Sein markerschütternder Schrei war es gewesen, der sie hat Schaudern lassen. Sie konnte sich nicht ausmalen, welche Schmerzen er für diese Art der Vision hatte zahlen müssen. 
„Ich sah Erzen vor mir und seine verbrannte Erde. Sah, dass die uns Leben spendende Sonne, dort tötet. Der Regen dort macht krank, während wir von seinem Wasser Korn wachsen lassen. Wo wir in friedlichem Einklang mit den Tieren leben, sind sie in Erzen wild und unbezähmbar. Auf ihrem Land steht keine einzige Hütte mehr, denn die Winde wehen so stark, dass sie alles zerstören, obwohl ihre kühle Briese uns vor der Hitze der Sonne schützt. Wir leben hier in Harmonie und voller Stolz auf unsere Kultur, doch dort gibt es Menschen, die auf der Straße dahinsiechen, mit nichts als dem was sie an ihrem Leib tragen. Dort lebt jeder für sich selbst. Es gibt keine Kreise in deren Schutz man sich zurückziehen kann und auf den man vertraut. Wir können uns nicht vorstellen, was es für ein Leben sein muss, dass sie führen, aber wir können alles daran setzen ihnen zu helfen! Die Pläne für den Ausbau der Tunnel sind fertig und wir können bald damit beginnen sie in die Tat umzusetzen. Dann muss keiner von uns mehr sein Leben, auf der langen und gefährlichen Reise zur Grenze, aufs Spiel setzen. Bedenkt was vor 18 Jahren geschah, als unsere Lieferung an Erzen von einer Gruppe Plünderer gestohlen wurde. Madana und Trojen haben, durch großes Glück, überlebt, aber ihr Sohn…. Wir trauern noch immer alle um dieses junge Geschöpf. 
Aber ich habe auch gute Nachricht zu verkünden, nicht nur solch traurige. Adoree brachte mir heute neue Nachricht aus Erzen. Sie akzeptieren unser letztes Angebot und wir erhalten eine weitere Lieferung an Waffen, vor allem neue Pfeilspitzen, aber es sollen auch leichtere Klingen dabei sein, damit wir alle besser lernen und üben können. Jedoch bleibt unser Wunsch auf einen Lehrer wieder verwehrt, dafür erhalten wir neue, bessere Bücher, aus denen wir neue Techniken erlernen können. Sobald sie ihre Lieferung losgeschickt haben werden wir erneut eine Nachricht bekommen, damit wir, die hoffentlich letzten zwei von uns, auf die Reise schicken können.“ Großer Jubel aus den Reihen der Jüngeren folgte Sahels Worten, sie konnten es kaum erwarten sich in den Krieg zu stürzen. Voline dagegen schreckte das Geschrei auf. Sie hatte so gebannt an Sahels Lippen gehangen, dass sie beschämt zu Boden blickte, als es ihr bewusst wurde. Ihr Herz schlug laut und unregelmäßig, während sie reglos in der tobenden Menge stand. 
Namensträger Galaine war es, der mit einem strahlenden Lächeln den Orden wieder zur Ruhe rief. „Meine lieben Brüder und Schwestern. Wir können aufatmen, denn die Nachricht die Sahel uns bringt ist gut, doch wir dürfen nicht vergessen, dass jetzt wieder die Zeit der Arbeit folgt. Wir dürfen die Lebensmittellieferung nicht unterschätzen. Auch wenn jeder von uns seinen Beitrag ohne Mühe leisten kann, werden es doch schwere Monate werden, die uns bevorstehen. Denkt immer daran nicht auffällig zu handeln. Die Geheimhaltung des Ordens ist höchste Priorität.“


Stummes nicken folgte Galaines Worten. Sahel bekam das alles nur am Rande mit. Sein Kopf schmerzte so sehr, dass er sich nicht vorstellen konnte, dass er nicht jeden Moment bersten würde. Es war ihm ein Rätsel wie er es überhaupt geschafft hatte so lange vor dem Orden zu stehen, denn nun war er so dankbar für den Stuhl der am Rande der Empore bereitstand. Sein Vater saß neben ihm, doch er ignorierte den besorgten Blick der auf ihm lag. Unaufmerksam ließ er den seinen über die Menge schweifen, bis sein Onkel die Mitglieder des Ordens entließ. Der Raum leerte sich schnell, doch sein Vater, sein Onkel und eine der Familien blieben in stillem Schweigen zurück. „Sahel… Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll…“, Leucas Stimme war ruhig und sanft, als er sich zu seinem Sohn gesellte. „Deine Mutter und ich haben lange darüber geredet, was uns die Zukunft noch bringen wird. Sahel, du bist unsere Zukunft und deswegen haben Selenia und ich eine Entscheidung getroffen. Du wirst heiraten mein Sohn, damit unsere Familie fortlebt.“
Für einen Moment war Sahel so perplex, dass er gar nichts erwidern konnte. Schweigend ruhte sein fassungsloser Blick auf seinem Vater. Hatte er gerade wirklich das gesagt, was Sahel verstanden hatte? Er hoffte für seinen Vater, dass es nicht so war. „Wir haben eine Familie aus unserem Kreis ausgewählt, die nur eine einzige Tochter hat. Ihr Name ist Voline. Sie ist gut erzogen worden, nach allen Traditionen, und sie hat hervorragende Umgangsformen. Sie ist seit heute auch Teil unseres Ordens, so wie es auch ihre Eltern sind. Sie ist ein Emporkömmling des Teils der Familie, der sich dem Handel zugewandt hat. Sie wird also ein gutes Einkommen mit in die Familie bringen, wenn ihr Geschäft von ihrer Tochter übernommen wird. Sie ist eine gute Wahl für das Wohl unserer Familie und für das des Ordens.“ 
„Vater!“, nur mit Mühe konnte er die Wut die in ihm aufkeimte unterdrücken. „Ich glaube hier liegt ein Missverständnis vor. Sollte es nicht in meinem Ermessen liegen, welche Frau ich einmal heiraten werde? Ich dachte ich könne –“ Der eisige Blick seines Vaters ließ Sahel schweigen. „Du wirst das tun, was deine Mutter und ich für dich vorgesehen haben. Und das ist sicherlich nicht irgendein dahergelaufenes Mädchen von der Straße zu ehelichen. Wir haben lange überlegen müssen, wer die Richtige sein wird und dieses Mädchen dort“, Leucas deutete mit einer unauffälligen Geste zu den anderen Anwesenden, die sich angeregt mit Galaine unterhielten. „ist absolut perfekt. Sie ist schön. Sie ist intelligent und sie ist reich. Und ich will von dir keine Widerworte hören, Sahel. Ich bin dein Vater und du hast zu tun was ich für richtig halte. Und jetzt begrüßen wir die Familie deiner Verlobten.“ 
Sahel wünschte sich, dass er Leucas hätte sagen können, was er dachte, was er fühlte, doch er hätte ihm nicht zugehört. Sein Vater war zwar besorgt um ihn und sein Wohl, aber noch mehr um den Wohlstand der Familie und, dass sie in nichts hinter dem Namensträger standen. Es hätte nichts genützt, wenn er sich nun aufgeregt hätte, er hätte nur den Zorn seines Vaters auf sich gezogen und das hätte sein Herz noch schwerer bluten lassen als es diese arrangierte Ehe tat. 
Leucas schritt an seinem Sohn vorbei, durch die Säulenhalle, direkt auf die Familie dieser Voline zu. Nur kurz verweilte Sahel noch an seinem Platz, denn er wusste, dass er gehen musste. Mit jedem Schritt spürte Sahel wie sich die Kälte des Bodens durch seine Fußsohlen fraß. Immer tiefer, bis sie sein Herz erreichte und es zu Eis erstarren ließ. Und doch setzte er weiterhin einen Fuß vor den anderen und ging der Hoffnungslosigkeit seines Schicksals entgegen.